Bodo von Plato
Brentanos Studio
Als ich das erste Mal eines der Bilder sah, die im Westtreppenhaus des Goetheanum zu sehen sein werden, sah ich nicht, was ich sah.
Nicht, dass nichts zu sehen war.
Aber das Gesehene ergab sich nicht.
Ich sah auch keine Abstraktion.
Was ich sah, rief nicht sogleich etwas hervor, was die Erkennung oder Wiedererkennung ermöglichte.
Dann aber, wie in einem Nachklingen, realisierte ich etwas vom Menschen.
Kein Mensch ist zu sehen.
Keines Menschen Gestalt.
Langsam erst erkannte ich, was ich sah – erst, als ich sah.
Ich sah den sehenden Menschen.
Es ist, als sei man in einem Laboratorium des Sehens.
In 'Brentanos Studio', da, wo es um die Verwandlung des Bewusstseins vom Erfassen der Gegenstände zum Schauen geht.
Hannes Weigert, als Maler viele, viele Jahre durch die Schule des Sehens des nicht Sichtbaren gegangen, inspiriert durch das mantrische Gut Rudolf Steiners und seine Arbeit in der 'Malerverksted', lebte in Norwegen, als Anders Breivik am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya und in Oslo 77 Menschen tötete.
Der unbegreifliche Vorgang lebte in dem Maler weiter und weiter.
Bis das Geschehen begann, in ihm Form anzunehmen.
Menschliche Form.
Menschliches Angesicht.
Ein stilles Sehen.
Ein langsames Gesehen-Werden.
Ein Sehen jenseits des Wortes.
Aus dem Unfassbaren.
Diese Bilder zu zeigen, ist ein Versuch.
Ein Wagnis?
Ein Wagnis werden sie (hoffentlich) für den Sehenden.
(Quelle: Veranstaltungskalender Goetheanum 2017)
Sibylle Wissmeyer
Eine kleinste Bewegung
Im Sommer 2012 befinden sich in meiner Mailbox einige der ersten Abbildungen der im Entstehen begriffenen 77 Bilder des Malers und Freundes Hannes Weigert. Bilder, die in mir seltsame Empfindungen auslösen. Ja, sogar Antipathien. Wollen diese Bilder nicht zu lange und nicht zu deutlich angesehen werden? Etwas Scheues und Schamhaftes kommt mir entgegen. Oder bin ich es, die Scham empfindet, sich scheut, näher hinzusehen. Ist der Maler unbeholfen oder empfindet auch er diese Scham, diese Scheu – entspricht das Gemalte gerade diesem vorsichtig tastenden Gefühl des Malers?
Vorsichtig (leise still) trete ich in den Raum dieser Bilder ein – ich kann die Leere in und um die Bilder fühlen. Auch legen sie sich alle als ein inneres Bild eigenmächtig in mir übereinander. – Ich kann sie aber auch nach Belieben verbinden oder verrücken. Der Schein einer gemeinsamen elastischen Haut liegt über allen 77 Bildern, die jetzt im März 2013 als eine vollständige Reihe vor mir auf dem Rechner zu sehen sind. – Das erste Bild der Reihe zeigt mir, wo ich hinblicken soll. Welche Drehung des Kopfes ich innerlich erleben muss, um im Bild zu sein. Aber schon das zweite berichtigt meinen Blick um eine kleinste Bewegung und so fort. Hier, in einem anderen Bild, wird mein Blick abgewiesen, dort hereingezogen. Da führt mich eine Perlenschnur weiter. In dieses kann ich durch einen messerscharfen Schnitt eintreten. Hier befinde ich mich mitten im Nichts, wenn ich eintrete.
Bild 77 ist ein Fenster. Ich sehe gleichzeitig durch alle vorigen Bilder hindurch und muss feststellen, etwas Wesentliches fehlt ihnen allen. – Bin ich es, der Betrachter, die diesen Bildern fehlt? – Wollen sie angesehen werden? Wollen sie, dass wir über sie sprechen? Wollen sie, dass wir eine neue Sprache, neue Ausdrücke für die an ihnen erlebten Empfindungen suchen? – Brauchen sie das Wort (oder will das Wort zu ihnen kommen), damit wir sie SEHEN können, damit sie anschaubar für uns werden? – Welche Erlebnisse werden die Originale vermitteln, die ab 26. März im Westtreppenhaus des Goetheanum zu sehen sind ...?
(Zuerst veröffentlicht in : Das Goetheanum 2/2017)
Ch. Berlin
Unbegradigte Inselskizze
Nach mitternächtlichem Sturz vom Klavier auf die Dielen feierte mein weißer Rechner nur noch leuchtend blaue Fernsichten. Die Berliner Hinterhofwerkstatt, in der er daraufhin seit zehn Tagen versunken ist, versichert, es sehe gar nicht gut aus. Auf einer vor Wochen flüchtig besuchten Internetseite sah ich eine lange Reihe gemalter Bilder, leuchtend digitalisiert auf 12 Zoll Gesamtfläche, ein Feld nebeneinandergeordneter Kästchen, in denen jemand von einer unbegradigten Landschaftsauffassung erzählte (www.hannes-weigert.com). Grenzen verliefen mal so und mal anders, Flächen verschoben sich leise oder nachdrücklich, unterschiedlich palettierte Wetterlagen ließen Konturen zutage treten oder verwischten sie im Nebel. Aus Tiefen stiegen Verdichtungen auf. Titel: Øya - Insel. Die Perspektive entsprach durchgängig nicht derjenigen, die sich ergibt, wenn sich ein Blick vom Wasser aus einem Eiland nähert, denn es fehlte die Horizontlinie, die den Bildhintergrund in Register teilt. Durch den geografischen Vogelblick erschienen die Gegenden ausgesetzt, schwimmend in einer Weite, die nicht immer an den Grenzen des Formats endete und den Eindruck einer jeweils bestimmten, nicht austauschbaren Ansicht verstärkte. Hat einer vor, 77 Bilder in einem motivischen Zusammenhang zu malen, nimmt er seinen roten Faden ein bißchen fester in die Hand und lässt sich von diesem ein bisschen mehr an die Hand nehmen. Das Anknüpfen am jeweils vorhergehenden Bild und der Ausblick in das folgende vertieft sich an der Widmung, die dem Entschluss inne ist. Sind die Bilder gemalt und versammelt, steht zwischen ihnen die Frage auf, wie sie untereinander zusammenhängen, und sie beantwortet sich nur im Transit, in der Bewegung. Die unbegradigte Landschaftsauffassung hat an dieser Stelle ihren Ursprung. Um eine Gegend zu begradigen, muss man einen Stillstand herbeiführen, den die Gegend von sich aus nicht hat, was nicht nur ein landschaftliches Problem ist, sondern auch ein malerisches, insofern es sich bei Farbe nicht zuletzt, doch oft noch unberücksichtigt, um ein Bewegungsphänomen handelt; je mehr Zwischentöne einem Gegenstand ermöglicht werden – je länger die Beobachtungsreihe ist –, desto unerschöpflicher ‹wird› er, das heisst desto wirklicher kommt er zur Erscheinung. Die ‹Insel› war übrigens zuvor über lange Zeit ‹Kopf›.
(Zuerst veröffentlicht in: Das Goetheanum 29-30/2013)